Mit J.J. Weilenmann über den Normalweg auf die Schesaplana
Die Schesaplana ist der höchste Berg im Rätikon, dem Grenzgebirge über drei Ländern: Österreich, Schweiz und Liechtenstein. Das gewaltige Massiv beherrscht die Talschlüsse von Brand/Vorarlberg und Seewis/Graubünden. Auch im Rheintal zwischen dem Bodensee und Feldkirch sowie im Churer Rheintal ist das Massiv präsent. An klaren Tagen im Spätsommer und im Herbst sind vom Bodensee nicht nur die Gipfel des Schesaplana-Massivs gut auszumachen – oft ist sogar die Mannheimer Hütte am Plateaurand erkennbar. Die Schesaplana ist einer der am frühesten bestiegenen Hochgipfel der Alpen. Bereits um 1610 soll sie der Vogteiverwalter David Pappus im Rahmen einer Grenzbegehung erreicht haben.
Schon in meiner Kindheit war die Schesaplana ein besonderer Berg für mich. Ich wusste, dass sie ohne Kletterei erreichbar ist. Sie war in meinen Träumen damals so etwas wie der höchste für mich erreichbare Berg. Und mit 2965 m ist sie fast schon ein Dreitausender. Das erste Mal war ich 1989 mit meiner damaligen Freundin auf der Schesaplana. Wir waren frisch verliebt und es war nach der Sulzfluh bereits unser zweiter »großer Gipfel« in der Woche. Die Schesaplana ist in jedem Fall eine Bergtour, die Trittsicherheit und ein Mindestmaß an Erfahrung fordert.
Was bedeutet der Name »Schesaplana«?
Der Name klingt zunächst einmal fremdländisch, südländisch, fast schon italienisch. Tatsächlich ist die Bedeutung romanischer Herkunft, jedoch nicht aus dem Italienischen. Die Anwohner in Brand sagten zumindest früher »Sessaplana«, was wahrscheinlich auf die rätoromanische Form »Sassaplana« zurückgeht (Lateinisch saxum = Stein, plana = eben, flach). Wer von Süden auf die Schesaplana blickt, so von den Gipfeln der Hochwang-Kette, sieht eine breite Felsmauer, auf der die Pyramide der Schesaplana aufsitzt. Ein ebener Stein (Sassa plana), der von einem Gipfel gekrönt wird. Das gesamte Massiv wird auf der Schweizer Seite im Prättigau noch heute als »Alpstein« bezeichnet. Gleiches gilt für die Karten von Swisstopo.
Auf der österreichischen Seite ist für das Massiv auch die Bezeichnung »Panüeler« bekannt. Nicht zu begründen ist die italienische Schreibweise »Scesaplana«, denn die Täler rund um das Massiv waren nie italienisches Siedlungsgebiet. Diese Ausführungen könnt ihr im Alpenvereinsführer Rätikon von G. & W. Flaig nachlesen. Übrigens heißt das Massiv rund um den Säntis in der Ostschweiz ebenfalls »Alpstein«.
Johann Jakob Weilenmann
Heute bin ich nicht allein unterwegs: Mein »imaginärer« Begleiter ist Johann Jakob Weilenmann. Obwohl er die Schesaplana bereits vor mehr als 150 Jahren bestiegen hat, nehme ich ihn heute nochmals mit auf den Gipfel.
Johann Jakob Weilenmann wird am 24. Januar 1819 in St. Gallen geboren. Bereits in jungen Jahren steigt er auf die Berge der näheren Umgebung, wie den Säntis. In den 1850er-Jahren beginnt er dann richtig mit seiner alpinen Tätigkeit, die ihn vor allem in die Bündner Alpen und die Berge Tirols und Vorarlbergs, aber auch ins Wallis und in die Berner Alpen führen. 1872 veröffentlicht er seine Touren in Buchform unter dem Titel Aus der Firnenwelt. Zwei weitere Bände folgen in den nächsten fünf Jahren. Weilenmann gehört im Jahr 1863 zu den Gründern des Schweizer Alpenclubs SAC. Zu seinen Erstbesteigungen zählen berühmte Berge wie Piz Buin und Fluchthorn in der Silvretta. Der Normalanstieg zum Fluchthorn trägt seinen Namen: »Weilenmannrinne«. Nach dem Bergsturz vom 11. Juni 2023 könnte die Route zum Teil Geschichte sein.
Die Schesaplana-Besteigung von Weilenmann im Jahr 1852 dürfte zu den eindrücklichsten frühen Besteigungen zählen. Er erreichte den Gipfel auf dem bereits damals häufig von Touristen begangenen Normalweg über Lünersee und Totalp. Was seine Besteigung außergewöhnlich und für unsere heutige schnelllebige Zeit undenkbar macht, war seine »Anreise«: Die 60 Kilometer von St. Gallen nach Brand legte er in 15 Stunden zu Fuß zurück! Das hatte mich schon als Kind nachhaltig beeindruckt, als ich im AVF Rätikon davon las.
Leicht und locker mit der Seilbahn zum Lünersee
Einen langen Fußmarsch nach Brand muss ich mir heute, an einem wunderschönen Tag mitten im Juli, glücklicherweise nicht antun. Ganz bequem bringen mich Bahn und Bus durchs »Ländle« von Bregenz am Bodensee über Bludenz und durchs Brandnertal zur Talstation der Lünerseebahn. Während der Fahrt male ich mir aus, wie anstrengend der lange Marsch von St. Gallen, den Herr Weilenmann am Vortag seiner Besteigung hinter sich gebracht hat, wohl gewesen sein muss. Und das Ganze noch bei sommerlicher Hitze … Selbstverständlich nehme ich auch das Angebot der Lünerseebahn dankbar in Anspruch und lasse mich zum Seebord hinauf tragen. Schließlich schleppe ich einen Rucksack für zwei Tage mit mir herum, was mir als »innere Rechtfertigung« völlig ausreicht.
Mein heutiger imaginärer Begleiter, Herr Weilenmann, mit dem ich hier am See quasi zusammentreffe, ist auch den Weg zum Lünersee von Brand hinaufgestiegen. Nachts um eins startete er. Um diese Uhrzeit habe ich noch tief und fest geschlafen.
Bis zum Lünersee war Herr Weilenmann weitere drei Stunden unterwegs. Dazu kommen die unglaublichen 15 Stunden vom Vortag, macht nun schon 18 Stunden insgesamt. Meine Bilanz bis hier liegt bei glatt null Stunden Wanderzeit.
Gemeinsam vom Lünersee zur Totalphütte
Ab der Douglasshütte, 1979 m, sind wir nun gemeinsam unterwegs, der Herr Weilenmann und ich. Unser Weg führt zunächst gemütlich, aber inmitten vieler Ausflügler und anderer Wanderer, am Ufer des Lünersees entlang. Dieser sah im Jahr 1852 noch anders aus, denn erst gut 100 Jahre später wurde der ehemals größte natürliche Hochgebirgssee der Ostalpen aufgestaut. Dabei wurde auch die 1871/72 erbaute Douglass-Hütte, die erste Alpenvereinshütte überhaupt, abgerissen und oberhalb des Staudammes neu aufgebaut.
Bald schon zweigt unser Anstieg Richtung Totalp und Schesaplana rechts ab und steigt sogleich kräftig an. Unter meinem schweren Rucksack wird es mir zunehmend wärmer, die Julisonne heizt mir kräftig ein. Und das, obwohl ich nur im T-Shirt unterwegs bin. Kein Vergleich dazu das »Outfit« von J.J. Weilenmann – er trägt einen weißleinenen Gehrock und eine lange Hose, dazu wollene (!) Unterwäsche. So etwas wie Funktionswäsche kennt er nicht. Vermutlich hat er auch längst nicht so viel Zeugs im Rucksack dabei wie unsereins heutzutage …
Auf der Totalphütte, 2381 m, ist ganz schön was los: Schesaplana-Aspiranten und andere, die schon am Gipfel waren, dazu jede Menge Hüttenwanderer und Sommerfrischler. Ein recht buntes Bild ergibt das. Ich halte mich hier nicht lange auf und auch J.J. Weilenmann hat dazu keinen Grund, denn schließlich gibt es 1852 noch keine Unterkunft auf der Toten Alpe. Sie wurde ursprünglich von den Vorarlberger Illwerken als Baubaracke erstellt und 1961 dem Österreichischen Alpenverein, ÖAV zur Verfügung gestellt.
Gemeinsam von der Totalphütte auf die Schesaplana
Während der Steig nun die Steinwüste der Toten Alpe durchquert, weitet sich im Süden die Sicht auf die Bündner Berge. Beim weiteren Anstieg auf dem Normalweg zur Schesplana begegnen mir viele Bergwanderinnen & Bergwanderer. Auch J.J. Weilenmann trifft unterwegs eine beachtliche Zahl an Menschen. Schon zu seiner Zeit zählt die Schesaplana zu den beliebtesten Hochgipfeln der Alpen und daran hat sich bis heute nichts geändert. Im Gegenteil, an Spitzentagen im Sommer dürften es einige Hundert sein, die den Gipfel vor allem über den Normalweg erreichen.
Der Anstieg wird wieder steiler und führt durch eine steile geröllhaltige Rinne, das so genannte »Kaminle«, in die oberste Mulde unter dem Gipfel, in der sich bis in den Sommer hinein ausgedehnte Schneefelder halten. Weiter oben helfen Drahtseile, eine leicht ausgesetzte Querung zu meistern. Weilenmann hat seinerzeit keine Drahtseile vorgefunden.
Gemeinsam am Gipfel der Schesaplana
Endlich stehen wir auf dem Gipfel der Schesaplana, auf 2965 m. Ich habe dafür insgesamt knapp drei Stunden ab Lünersee gebraucht, inklusive kurzer Pausen. J.J. Weilenmann dagegen ist bis nun schon seit über 20 Stunden unterwegs. Eine fast unglaubliche Leistung. Wer würde heute noch für einen Berg wie die Schesaplana so viel Zeit »opfern«?
Als ich 1989 zum ersten Mal auf der Schesaplana stand, war der Brandner Gletscher unter mir noch einiges größer. Weilenmann hat ihn wohl noch eindrucksvoller erlebt, denn im 19. Jahrhundert gab es laut Walther Flaig in der Nordost-Flanke der Schesaplana noch »eine schöne spaltenlose Firnwand«. Leider hat Weilenmann kein Wetterglück. Wie auch bei seiner zweiten Besteigung 1876 machen ihm dichte Wolken und starker Dunst einen Strich durch die Rechnung. Ich dagegen kann einen absoluten Traumtag verbuchen, zwar nicht so klar wie im Herbst, aber ohne Wolken und Dunst. Trotz der vielen Menschen am Gipfel und einem ständigem Kommen und Gehen, bin ich von der großartigen Rundsicht fasziniert. Vor allem die Tiefblicke ins Brandnertal und auf den Gletscher haben es mir angetan und ich kann mich kaum losreißen.
Von der Schesaplana über den Brandner Gletscher zur Mannheimer Hütte
Irgendwann gelingt es mir dann doch, schließlich möchte ich heute noch auf den Wildberg und zum Panüeler Kopf. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass sich hier die Wege von J.J. Weilenmann und mir trennen. Er wird wieder zum Lünersee und nach Brand hinabsteigen. Mein Ziel dagegen ist die Mannheimer Hütte, auf der ich endlich einmal übernachten möchte, um von dort die vielgepriesene Abendstimmung zu erleben, inklusive Blick zum Bodensee. J.J. Weilenmann hat diese Alternative nicht, denn 1852 existiert weder die Mannheimer Hütte, die 1905 als Straßburger Hütte eröffnet wird, noch gibt es die Felsenwege durch die Wände des Panüeler, Leibersteig und Straußsteig. Heute erschließen nicht weniger als acht Steiganlagen das zentrale Massiv rund um die Schesaplana.
Manches hat sich erst in den letzten Jahren geändert. Der früher übliche direkte Abstieg vom Schesplanasattel über den Brandner Gletscher zur Hütte wurde vor einigen Jahren wegen Gletscherschwund aufgegeben. Die heutige Route führt vom Schesaplanasattel nicht mehr direkt über den Gletscher hinab, sondern zunächst aussichtsreich am Grat entlang. Stangenmarkierungen zeigen etwa bei P. 2806, dem höchsten Punkt der Schafköpfe, die Gletscherüberquerung zur Mannheimer Hütte, 2679 m, an.
Mannheimer Hütte, Wildberg & Panüeler Kopf
Während ich später auf der Hüttenterrasse entspanne, ist Weilenmann vielleicht schon wieder am Lünersee oder auf dem langen Heimweg nach St. Gallen. Vielleicht bleibt er aber noch eine weitere Nacht in Brand, dem Bergdorf, das von den Gipfeln des Schesaplana-Massivs überragt wird. Sein Heimweg nach St. Gallen lässt sich von der Mannheimer Hütte und von der Schesaplana fast komplett nachvollziehen: Zuerst von Brand hinab nach Bürs, dann weiter an der Ill entlang durch den Walgau bis Feldkirch. Dort über den Rhein in die Schweiz und weiter am Rhein entlang etwa bis Altstätten. Von hier schließlich noch mit einigem Auf und Ab über die Appenzeller Hügellandschaft nach St. Gallen.
Da habe ich es entschieden einfacher – in Begleitung besteige ich von der Hütte noch den Wildberg, 2788 m, und später zum Sonnenuntergang den Panüeler Kopf, 2859 m, den zweithöchsten Gipfel im Rätikon. Beide sind erstklassige Aussichtswarten mit packenden Tiefblicken!
Mein Abstieg am nächsten Morgen könnte nach Brand via Leibersteig und Oberzalimhütte erfolgen. Aber weil die Schesaplana zu meinen liebsten Bergen gehört, werde ich morgen nochmals hinauf steigen und dort oben ein paar Stunden verbringen, bevor es wieder hinab geht in die Zivilisation, die heute so ganz anders aussieht als zu Zeiten eines Johann Jakob Weilenmann.
Hinweis: Diesen Artikel schrieb ich bereits vor mehr als zehn Jahren und bot ihn seinerzeit verschiedenen Zeitschriften an. Niemand hatte Interesse. Einige der Bilder wurden noch als Dia aufgenommen. Daher bitte ich um Nachsicht, wenn die Qualität bei diesen Bildern nicht so gut ist, wie man es sich vielleicht wünschen würde.
Der Normalweg zur Schesaplana
Der »klassische« und einfachste Anstieg auf die Schesaplana führt über die Totalp – der Weg, den Weilenmann und ich gegangen sind. Er zählt zu den populärsten Gipfelanstiegen in Vorarlberg und wird sehr häufig begangen.
Ausgangs- und Endpunkt
Bergstation der Seilbahn zum Lünersee. Bus von Bludenz über Brand zur Talstation der Lünerseebahn, Linie 580, und mit der Seilbahn zum Lünersee. Infos unter »ÖV«.
Zeiten & Höhenmeter
Douglasshütte – Totalphütte 1¼ Std.
Totalphütte – Schesaplana 1¾ Std.
Schesaplana – Totalphütte 1¼ Std.
Totalphütte – Douglasshütte 1 Std.
990 Hm
Anforderungen & Jahreszeit
T3+, Trittsicherheit erforderlich, erhöhte Vorsicht bei Schnee!
Mitte Juli bis Ende September
Swisstopo 25, 1156 Schesaplana, 1:25 000. Die weitaus schönste und beste Karte! Wunderbare und detailreiche Darstellung des Schesaplana-Massivs. Zwar ohne Wanderwege und der Gletscherstand des Brandner Gletschers ist nicht immer aktuell, aber wie alle Karten von Swisstopo ein echtes Meisterwerk!
freytag & berndt: 5374 Brandnertal-Nenzinger Himmel-Rätikon, 1:35 000.
Braendle, Hermann: Rätikon Reader, Bucher Verlag Hohenems, 2009. Wander- und Lesebuch in einem. Mit interessanten Hintergrundinfos.
Mayerhofer, Rudolf: Alpenvereinsführer Rätikon, Bergverlag Rother, München, 10. Auflage 2014. Der Autor beschreibt nur die üblichen Anstiege, die regelmäßige Begehungen aufweisen und verzichtet auf heikle Touren. Sehr schöne und eindrucksvolle Farbbilder.
Flaig, Günther & Walther: Alpenvereinsführer Rätikon, Bergverlag Rother, München, verschiedene Auflagen. Die »alten Flaig-Führer« (AVF) sind längst vergriffen, einige davon sind mittlerweile digital erhältlich (gescannte Bibliotheksausgaben). Teilweise veraltet, aber wunderbar geschrieben. Evtl. antiquarisch bei Alpen-Antiquariat Ingrid Koch.
Hunziker Manfred: Clubführer Ringelspitz / Arosa / Rätikon, SAC Verlag, Bern, 2010. Enthält im Gegensatz zu früheren Auflagen auch die nördlichen Rätikon-Kämme in Liechtenstein und Österreich. Wie alle SAC-Führer zwar nicht unbedingt preiswert, aber im gewohnt exakten und souveränen Stil von Manfred Hunziker. Topp!
Irtenkauf, Wolfgang (Hrsg.): Scesaplana – Faszinierende Bergwelt des Rätikon zwischen Vorarlberg, Liechtenstein und Graubünden, Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen, 1985. Enthält die Erzählung von Weilenmanns zweiter Besteigung im Jahr 1876. Alpines Lesbuch mit Beiträgen zur Topographie, Geologie und Geschichte des Rätikongebirges sowie die Originalberichte der historischen Schesplana-Ersteiger.
Irtenkauf, Wolfgang und Elisabeth (Hrsg.): Johann Jakob Weilenmann – Bergabenteuer in Rätikon, Verwall und Silvretta, Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen, 1989. Enthält die Erzählung von Weilenmanns zweiter Schesaplana-Besteigung im Jahr 1876, eine ausführliche Biografie über Weilenmann und die Erzählungen der Erstbesteigungen von Fluchthorn und Piz Buin.
Beide Titel nur noch antiquarisch erhältlich, evtl. bei Alpen-Antiquariat Ingrid Koch.
Bus von Bludenz über Brand zur Talstation der Lünerseebahn (Linie 580).
Fahrplan Vorarlberg
Fahrplanbuch Vorarlberg zum Download
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